„Unvergessliche Momente“, eine Campleitende erzählt
03.09.2024
Es ist Dienstag, ich sitze mit einer Tasse Tee im Büro und mein Alltag startet wieder. Ich bin Teil des Fundraising- und Marketing-Teams, welches sich um Social Media, Spendenbriefe, Flyer und unsere Webseite bei Kovive kümmert - ein Bürojob.
Diesen Sommer war ich im Kovivelager „Erlebnis Bauernhof“ als freiwillige Campleitende. Dazu habe ich mir eine Woche Ferien genommen. Und etwas sei schon am Anfang verraten: So bereichernd und sinnvoll habe ich meine Freizeit schon lange nicht mehr verbracht.
Der Lagerstart: Aufregung pur
Ich reise nach Romoos (LU) mit ganz viel Vorfreude, aber auch etwas Aufregung im Bauch: Wie ist das, auf einmal mit so vielen Kindern zusammen zu leben? Was ist, wenn einem Kind etwas Schlimmeres passiert? Werde ich gut und ausgiebig genug schlafen können?
Doch als wir dann am Samstagmittag alle auf dem Bauernhof Bärüti eintreffen, habe ich keine Zeit mehr, mir Gedanken darüber zu machen. Bei Kaffee und Kuchen führt uns Stephanie, unsere Hauptleiterin, durch die letzten Vorbereitungen: Ein Input zu Nähe und Distanz, Plakate und Ämtlipläne zeichnen, Lager-Programmpunkte durchgehen und das Einrichten von uns Campleitenden im Tiny House.
Während die Kinder im Massenschlag und im Stroh schlafen, teilen wir Campleitenden uns das Tiny House. Klar ist: Es wird „kuschelig“ – jeder hat grade so Platz, um das Gepäck in eine kleine Ecke zu quetschen. Über eine schmale Treppe kommen wir ins Schlafloft, wo vier Matratzen beieinanderliegen. Zudem stehen zwei Zelte in der Nähe der Schlafräume der Kinder – für die Nachtwache.
Am nächsten Vormittag stehen wir dann vor einer Gruppe von Kindern am Bahnhof in Wolhusen. Ab diesem Zeitpunkt lebe ich im Hier und Jetzt. Meine ganzen Alltagssorgen haben einfach keinen Platz mehr im Kopf, denn es ist immer etwas los: Ein Kind zeigt mir einen Schachbrettfalter, ein anderes braucht ein Pflaster, und ein weiteres malt gerade eine schöne Kreidezeichnung auf den Boden, die ich fotografieren möchte.
Kennenlernen, Spielen und ab ins Bett
Ich bin erstaunt, wie schnell ich mir die Namen der zwanzig Kinder merken kann. Die Namenskleber helfen da natürlich – und die Kennenlernspiele, die wir gemeinsam auf dem Hof spielen. Dann kommt auch schon die erste Nacht. Ich lese den Kindern eine Gute-Nacht-Geschichte vor und so langsam werden sie müde (und ich auch). Nach dem abendlichen Höck mit den anderen Leitenden, kuschle ich mich ins Zelt unterhalb des Schlafraumes der Kinder. Aber schlafen tue ich nicht, ich liege wach und höre, wie ein Kind zur Toilette läuft. Braucht es mich jetzt? Die meisten schlafen gut, aber mehrmals kommt ein Kind und braucht Hilfe: Heimweh, Asthma, ein Glas Milch zum Einschlafen. Um vier Uhr schlaf auch ich dann endlich ein.
Der erste Ausflug: Lamatrekking
Nach drei Stunden Schlaf beginnt der nächste Tag: Ab zum Lamatrekking. Die Kinder sind anfangs schüchtern, wissen nicht, wie sie die Lamas führen können und haben dann umso mehr Freude, als sie sich getrauen und die Lamas tatsächlich friedlich neben ihnen herlaufen. Die 7- bis 11-jährigen Kinder sind teilweise ein paar Köpfe kleiner als die Lamas, was ihren Respekt verständlich macht.
Durch das bunte Programm und die süssen Lamas habe ich gar keine Zeit müde zu werden und geniesse die Momente, wandernd die Kinder kennenzulernen.
Abends bereiten Stephanie und ich den nächsten Tag vor. Da werde ich die Tagesverantwortung haben und unser Team und die Kinder durch den Tag leiten. Beim allabendlichen „Höck“ sitzen wir im Tiny House mit Knabberzeug und besprechen schwierige Situationen, Highlights (davon gibt es jeden Tag so viele) und den Plan für den nächsten Tag. Wir reflektieren gemeinsam den Tag und geben uns wichtige Hinweise und Rückmeldungen. So stellen wir das Wohl und den Schutz der Kinder und Campleitenden sicher.
Todmüde steige ich dann um Mitternacht in meinen Schlafsack im Tiny House. Simona hat Nachtwache und bietet mir an, die darauffolgenden Nächte ebenfalls im Nachtwache-Zelt zu schlafen, da sie überall gut schläft - im Gegensatz zu mir :). Ein Angebot, dass ich dankend annehme. So komme ich tatsächlich auf circa 6 Stunden Schlaf in den folgenden Nächten. Stephanie und Jasmin wechseln sich normal ab mit den Nachtschichten, während Alessio und Miriam Frühdienst machen und die Kinder abfangen, die schon um 6 aus dem Bett kriechen.
Basteln und Spielen auf dem Hof
Etwas ausgeschlafener starte ich in den nächsten Tag und erkläre nach dem Frühstück den Kindern, was wir denn heute machen werden: Steine schleifen, Schatztruhe basteln, Spiele spielen und wer will noch in den Wald gehen.
Die Kinder sind richtig kreativ und teilweise sehr viel ausdauernder, als ich dachte. Ein Junge schleift ganze sieben Steine, um allen Lagerleitenden einen davon zu schenken. Auch wenn es eine kleine Geste ist, sind alle Leitenden von dem liebevoll geschliffenen Stein berührt. Ein Moment, der im Herzen bleibt.
Der Tag läuft also richtig gut, bis auf das Alessio krank wird. Trotzdem schaffen wir es, dass alle mal eine halbe Stunde Pause bekommen, sich im Tiny House hinlegen oder mal kurz mit der „Aussenwelt“ Kontakt aufnehmen können. Auch wenn ich die Zeit mit den Kindern geniesse, ist so ein kleines Päuschen für den inneren Akku Gold wert.
Abwaschen kann richtig Spass machen
Natürlich gibt es auch Ämtlis im Kovive-Camp. In meiner Gruppe können vier von fünf Kinder gebrochen Deutsch. Sie stammen aus anderen Kulturen, sind als Flüchtlinge hierhergekommen und haben teilweise noch nie einen Abwaschlappen in der Hand gehalten. Die Jungs schämen sich anfangs eher, in der Küche mitzuhelfen. Aber mit etwas Motivation, Musik und Teamspirit lernen sie schnell. Kleine Dinge, wie Abtrocknen oder einen Lappen auswringen sind rasch beigebracht und zeigen den Kindern, dass sie ganz viele Dinge rasch lernen können.
Am Ende des Lagers fragt mich ein Kind beim Ausfüllen des Fragebogens, ob es das Abwaschen als Highlight nennen darf. Auch der Rest der Gruppe schreibt das Abwaschen bei ihren Lieblingsmomenten auf. Da musste ich einfach wie ein Honigkuchenpferd strahlen. Mir wird klar, dass es tatsächlich die alltäglichen Situationen mit den Kindern sind, die einem im Herzen bleiben.
Auch schwierige Situationen gehören dazu
Obwohl in unserem Lager alles relativ reibungslos verlaufen ist, gibt es immer wieder schwierigere Momente: Ein Kind erbricht während dem Essen mitten auf den Teller, worauf die Kinder daneben ebenfalls mit dem Würgen beginnen. Ich begleite sie ins Bad, wasche ihr T-Shirt aus und kaum ist das erledigt, spielt sie schon wieder mit den anderen Kindern.
Ein Kind will auf einem Tagesausflug ins Ziberliland nicht im Wald auf die Toilette und macht sich schlussendlich in die Hose. Miriam organisiert neue Kleider und stösst unauffällig zurück zur Gruppe hinzu. Keiner hat was gemerkt und dem Kind gehts gut.
Ein Kind drückt ein anderes gegen einen Elektrozaun, der unter Strom steht – eine klare Grenzüberschreitung. Wir besprechen die Situation mit beiden Kindern und erklären, dass so etwas absolut nicht geht. Eine Entschuldigung später lachen sie wieder miteinander.
Diese Situationen sind herausfordernd, aber mit unserem gut aufgestellten Team konnten wir alle Vorkommnisse gut auffangen und so den Kindern weiterhin ein tolles Lager ermöglichen. Als Lagerneuling bin ich doppelt froh, dass ich jederzeit erfahrene Lagerleitende um Rat und Hilfe fragen kann.
Freitag: Zeit für Komplimente
Die Kinder durften unter der Woche eine Schatztruhe zusammenbasteln und bemalen. Damit auch wir Leitenden nicht leer ausgingen, haben sie auch für uns alle eine fertiggestellt. Die ansonsten gern auch mal laute Kinderschar schafft es am Freitag zur Übergabe, ganz ruhig dazusitzen und die Schatztruhe gefüllt mit Erinnerungen für die Woche, entgegenzunehmen.
Ein Kind nach dem anderen bekommt sie überreicht, mit samt einem Kompliment von einem der Leitenden. Man merkt, dass einige Kinder wahrscheinlich weder zuhause noch in der Schule viel positives Feedback zu hören bekommen. Da muss man sich schon die ein oder andere Träne verdrücken. Denn auch zu uns Leitenden durften die Kinder etwas sagen. „Du hast eine der besten Vorlesestimmen“, „Du warst immer hilfsbereit“ und „Du hast ein grosses Herz“ von Kindern zu hören, geht einem echt unter die Haut.
Ich fühl mich unterdessen einfach Pudelwohl in dieser Gruppe und auch in meiner Rolle als Leitende. Wir als Team verstehen uns super, so langsam kennen wir die Kinder auch etwas besser und schliessen sie ins Herz. Wehmütig denke ich daran, dass dies der letzte Tag ist.
Es ist streng. Aber das ist schlussendlich egal
Als wir am Samstagvormittag mit den Kindern ein letztes Mal zum Postauto runterlaufen, spreche ich frischfröhlich mit Stephanie und erkläre ihr, wie fit ich noch bin und wie gut mir das Lager gefällt – trotz leichten Halsschmerzen. „Ich dachte, dass ich am Ende des Lagers total erschöpft und müde bin“, sage ich.
Zwei Stunden nachdem wir die Kinder wohlbehalten wieder abgegeben haben, sitzen alle Campleitenden für ein letztes gemeinsames Essen mit der Familie vom Hof an deren Tisch. Ich kann dabei kaum mehr ein Auge offenhalten, was zur allgemeinen Belustigung beiträgt. Ich lache über mich selbst und freu mich unglaublich auf viel Schlaf und Erholung. Und auch wenn mein Hals immer mehr schmerzt, ist mir das komplett egal.
Mein Herz ist bis an den Rand gefüllt mit Erinnerungen, die ich ein Leben lang in mir tragen werde. Stephanie nennt das den „Seelenakku“, welcher im Gegensatz zum „Körperakku“ am Ende des Lagers voll geladen ist.
Und so sind wir uns am Tisch einig: Das wird für uns alle nicht das letzte Kovive-Lager gewesen sein.