Kovive: Eine 70-jährige Geschichte für Kinder in Not
20.02.2024
Die Geschichte von Kovive beginnt mit einem erfrorenen Kind in Paris im eisigkalten Winter 1954. Mit diesem Ereignis war klar: Kinder in Not brauchen dringend Hilfe. Seither gibt es tausende von Geschichten von armutsbetroffenen Kindern, die über Kovive in einem Ferienlager oder einer Gastfamilie mehr als nur ein Dach über dem Kopf und ein Essen erhalten haben…
Wie alles begann
„Ein kleines Kind der Stadt Paris ist erfroren, während Tausende wohlgenährter Zeitgenossen in ihrem warmen Heim unbekümmert dahinleben.“ Diesen Aufruf im Winter 1954 von Abbé Pierre, dem berühmten französischen Priester, hat Peter Kuhn, ein 18-jähriger Schweizer im Radio gehört. Genau wie Abbé Pierre, hat sich Peter Kuhn entschlossen, zu helfen, wo man helfen kann. So trommelte er per Zeitungsannoncen 80 weitere junge Männer in der Schweiz zusammen und reiste mit ihnen in den Sommerferien nach Paris. Zusammen mit Abbé Pierre bauten sie mehrere Jahre Notunterkünfte für obdachlose Familien in den Vororten von Paris.
Aber damit nicht genug, denn Armut und Krisen gab es in der Nachkriegszeit leider genügend. Ungarische Flüchtlinge wurden 1956 in einem leerstehenden Kinderheim im Wallis untergebracht, erste Kinderlager organisiert. Unter dem Namen «Aktion junger Schweizer für Obdachlose», kurz danach «Aktion im Dienste des Bruders» wird bald schon das getan, wofür Kovive auch heute noch steht: Hilfsangebote für armutsbetroffene Kinder, entweder in Form von Ferien bei Gastfamilien in der Schweiz oder in einem Ferienlager.
Menschen helfen Menschen – Freiwilligenarbeit als Basis
Wie die «Aktion im Dienste des Bruders» basiert auch das heutigen Kinderhilfswerk Kovive auf Freiwilligenarbeit. Ohne all diese Menschen, die seit 70 Jahren anderen Menschen helfen wollen, wäre es nicht möglich, diesen Beitrag zu leisten.
In den Armutsvierteln vor Paris klang das 1957 noch so: «Es galt, neue Brunnenanlagen zu errichten und bestehende zu versetzen. Gleichzeitig wurde auch ein Stück Wald gerodet und gesäubert als Spielplatz für die Kinder […]. Es war eine harte und ungewohnte Arbeit für die Teilnehmer, alles Studenten, kaufmännische Angestellte und Handwerker, die einen Teil ihrer Ferien für dieses Werk der Nächstenliebe opferten. Aber die flotte Kameradschaft, die frohe Atmosphäre im Lagerleben und vor allem aber das Bewusstsein, durch das Beispiel und die Gegenwart vielleicht dem einen oder andern […] wieder etwas Mut und Vertrauen an das Gute im Menschen zu vermitteln, […] lassen alle ihre Blasen schnell vergessen und geben jedem Teilnehmer einen inneren Gewinn.» - Sie fuhren nach Paris, Neue Zürcher Nachrichten, 16.8.1957
In den darauffolgenden Jahren wurden aber auch Kinder aus ganz Frankreich, Deutschland und später auch aus anderen europäischen Ländern an Familien in der Schweiz für einen Ferienaufenthalt vermittelt. Diese Gastfamilien meldeten sich ebenfalls freiwillig und boten den armutsbetroffenen Kindern bis zu zwei Monaten ein Zuhause. Im Jahr 1959 haben so schon 650 Kinder aus Deutschland und Frankreich Ferien in der Schweiz machen dürfen. Dies war nicht zuletzt möglich dank der Kooperation mit anderen Organisationen aus dem Ausland.
Das erforderte natürlich auch einiges an Planung: Die Kinder sind damals mit dem Zug angekommen, wurden in der Schweiz von vielen Freiwilligen zum richtigen Zug gebracht und dann von der Gastfamilie am Zielort abgeholt.
Die „Aktion im Dienste des Bruders“ wurde immer weiter ausgebaut und Partnerschaften mit Institutionen im In- und Ausland eingegangen.
Nicht zuletzt gab es auch sehr früh schon Schulungen für freiwillige Lagerleitende. Auch das ist eine Tradition mit Bestand. Noch heute sind jedes Jahr rund 30 Personen als Campleitende ehrenamtlich tätig und ermöglichen so nach wie vor unvergessliche Ferienabenteuer. Auch diese werden professionell geschult.
«Man unterschätzt oft, was so ein Lager für ein Kind bedeutet. Sie lernen in einem neuen Umfeld viele Aspekte über sich kennen: Durchhaltewille, sich überwinden, ihr eigenes Potential, Selbstvertrauen sowie wichtige Anker für ihr späteres Leben: Freundschaft, Zusammenhalt. Einer der schönsten Momente ist, wenn die Kinder dich beim Abschied fragen, ob du als Campleitende nächstes Jahr wieder dabei bist.» - Diem Vuong, freiwillige Campleiterin 2023
„Franken des Monats“ oder warum es Spenden braucht
Doch nicht nur Freiwillige ermöglichen die Hilfe für armutsbetroffene Kinder. Denn ohne Geld geht ja bekanntlich nichts. Mit dem Rundbrief „Franken des Monats“ und später Spendenbriefen wurde Geld für die Tätigkeiten gesammelt. Auch in Hotels von Schweizer Kurorten kam so einiges zusammen, um die Angebote zu finanzieren.
So hat beispielsweise auch der Bundesrat H. Hürlimann zum Spenden im Jahr 1976 aufgerufen: „Die Tätigkeit der „Aktion im Dienste des Bruders“ setzt nicht nur den uneigennützigen und spontanen Einsatz vieler Bereitwilliger voraus, sondern ebenso die Spenden zahlloser Mitbürgerinnen und Mitbürger um diese mitmenschliche Aktion zu ermöglichen. Mit Ihrer Unterstützung kann vielen Kindern Mut und Zuversicht, der Glaube und das Vertrauen in die guten Kräfte der menschlichen Gemeinschaft gegeben werden.[…] Helfen Sie mit, diese Kinderherzen höher schlagen zu lassen.“ – Eine „Herberge“ im Oberwallis, Walliser Volksfreund, 23.12.1976
Auch heute sind unsere Ferienlager und Entlastungsangebote stark spendenbasiert (und Kovive ist übrigens auch ZEWO zertifziert). Am Einkommen angepasste Teilnahmepreise ermöglicht es auch Kindern in der Schweiz ins Campleben einzutauchen – egal ob auf Pferd, Kanu oder Skiern. Sie können so ebenfalls bei engagierten Personen an Wochenenden, Ferien oder gar dauerhaft wohnen und erfahren dadurch Halt und Geborgenheit.
Ein neuer Name
1986 wurde „Aktion im Dienste des Bruders“ in „Kovive“ umbenannt. Der aus dem lateinisch stammende Begriff „convivere“ bedeutet solidarisches Zusammenleben und trifft damit, was die Organisation ausmacht: Sowohl in Camps als auch in Ferien bei engagierten Personen hilft man anderen und erlebt viele intensive Momente zusammen. Armut heisst in der Regel auch (Teil-)Verlust des sozialen Beziehungsnetzes. Solche Netze zu schaffen, ist vor allem für Kinder sehr wichtig, die sehr unter dem sozialen Ausschluss leiden.
Oder wie es in den Freiburger Nachrichten stand: „Bei Kovive helfen Menschen Menschen - unabhängig von Rasse, Religion und Staatszugehörigkeit. „Dies ist gelebte Solidarität […], wie ich sie mir vorstelle“, so alt Bundesrat Flavio Cotti, ehemaliger Gastvater.“
Kinder aus dem Ausland und dann der Schweiz
„Das Ferienlager […] beherbergt 40 Buben und Mädchen aus wenig begüterten Schweizer Familien für drei Ferienwochen. Obwohl im Ausland die Not vielfach stärker in die Augen springt, möchte die „Aktion im Dienste des Bruders“ auch die Kinder im eigenen Land nicht vergessen“ – Europa im kleinen, Der Bund, 13.08.1972
Während viele Kovive noch aus der Zeit kennen, in der Kinder aus dem Ausland (vor allem Deutschland und Frankreich) in der Schweiz bei Familien Ferien machen durften, stiegen die Zahlen der armutsbetroffenen Kinder in der Schweiz selbst erheblich. So vermittelte Kovive vermehrt auch Kinder aus der Schweiz an Gastfamilien.
2017 entschied sich Kovive dann wegen sinkender Anzahl von Kindern aus dem Ausland als auch der Gastfamilien hierzulande, sich voll und ganz auf die sozial und finanziell benachteiligten Kinder und Jugendlichen in der Schweiz zu fokussieren. Das Angebot – namentlich Camps und Betreuungsangebote – blieb im Wesentlichen aber gleich.
70 Jahre Kovive
Wer genau gelesen hat, hat vielleicht gemerkt, dass Kovive dieses Jahr wieder ein Grund zum Feiern hat. Vor 70 Jahren hat Abbé Pierre im Radio um Hilfe gebeten. Es hat sich viel getan in der Zwischenzeit. Aber es gibt nach wie vor eine hohe Anzahl armutsbetroffener Kinder – in der Schweiz und anderswo.
Allein in den letzten 5 Jahren haben wir über 1‘800 Teilnahmen registriert – entweder bei einer engagierten Familie / Person oder in Camps, das sind über 20‘000 Betreuungstage. In der Zeit wurden über 80 Feriencamps durchgeführt. Jährlich helfen uns dabei 150-200 Freiwillige, die Camps leiten oder ein Kind für Ferien oder Wochenenden bei sich aufnimmt.
So richtig zum Feiern zumute ist uns deswegen nicht. Über 130‘000 armutsbetroffene Kinder allein in der Schweiz sind uns einfach zu viele. Über 1800 Kinder erleiden jährlich Kindswohlgefährdung und über 300‘000 Kinder leben mit einem psychisch erkrankten Elternteil.
Also tun wir das, was wir seit 70 Jahren tun. Auch dieses Jahr gibt es wieder viele organisierte Kovive-Camps, mit am Einkommen orientierten Teilnahmepreisen. Die Betreuungsangebote durch engagierte Einzelpersonen oder Familien bietet nach wie vor Kindern die Gelegenheit in den Ferien oder an Wochenenden Halt und Geborgenheit auch ausserhalb der Herkunftsfamilie zu erleben. Zudem vermittelt Kovive auch Pflegefamilien, wenn ein Kind für längere Zeit nicht bei seiner Herkunftsfamilie bleiben kann. Dabei haben wir über die Jahre den Fokus immer mehr auf Qualität und sozialpädagogische Standards gelegt.
Unsere Geschichte schreibt selber Geschichten
Die Geschichte, warum Kovive überhaupt entstand, ist eine traurige. Die Geschichten, die aber seither nicht zuletzt dank Kovive geschrieben wurden, sind geradezu berührend. Aus Campleitenden wurden Freunde, genauso wie aus Campteilnehmenden. Gastfamilien und Kinder sind teilweise seit mehreren Jahrzehnten im regelmässigen Austausch und besuchen sich immer noch gegenseitig. Es entstanden und entstehen also immer wieder längerfristige Beziehungen und damit auch das soziale Netz, das für uns alle so wertvoll ist. Wenn das kein nachhaltiges Engagement ist ;)
Haben Sie auch eine Geschichte zu erzählen über und von Kovive? Dann schreiben Sie uns gerne :)